The Making Of -  KAFKALAND

(*English version below)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  Künstler: Christian Dörge.

  Album-Titel: Kafkaland.

  Format: Album.

  Aufgenommen im Januar 2023.

  Tonstudios: – The Gramophone Suite, München/Deutschland

                        – Parkland-Recording-Studio, Linköping/Schweden

                        – Sub Pop, Irvine, CA/USA.

  Besetzung: Christian Dörge (vocals, piano, guitars, double-bass, cello, alto saxophone,  

  synthesizers, programmings), Stina Suntland (add. vocals).

  Produziert von: Christian Dörge.

  Toningenieure: Josefin Schindler und Karen Park.

  Abgemischt von: Christian Dörge.

  Veröffentlicht: Februar 2023.

  Plattenfirma: Black October-Records/Nordwasser-Records.

 

  Tracks:

  1. White Box

  2. Psychokult

  3. Beinahe hier

  4. 1979

  5. Sophie Rois in Weimar

  6. Das Atmen von Eis

  7. Kafkaland

  8. 1989

  9. Dancing in Berlin (Album-Version)

  10. Doktor Faustus in werkerfüllter Ewigkeit

  11. Weimar bei Nacht

  12. Ich fühle dich nicht

  13. Gekreuztes Heroin

  14. 1996

  15. Ein kafkaesker Limbus

  16. Falsche Licht 2023

  17. Phantomschmerz

 

 

  Noch im Sommer des Jahres 2022 sah es ganz und gar nicht danach aus, als würde ich jemals wieder ein neues Album aufnehmen. Die Verhandlungen mit der Plattenfirma zogen sich zu diesem Zeitpunkt schon seit über einem halben Jahr hin und schienen ins Nirgendwo zu führen; ein für Januar 2022 geplantes neues SYRIA-Album kam nicht über die Planungsphase hinaus, weil sich die Band nicht in der von mir gewünschten Form zusammenbringen ließ – die Corona-Maßnahmen (und Einschränkungen) taten in dieser Hinsicht ihr Übriges, um dieses Album-Projekt scheitern zu lassen.

  Hinzu kam... nun, ich war 2022 aus vielerlei Gründen alles andere als guter Dinge, und die Vorstellung, eine derart konzentrierte Arbeit wie das Schreiben, das Aufnehmen und das Produzieren eines Albums leisten zu können, erschien mir mindestens: höchst abwegig. Darüber hinaus machte es sich deutlich bemerkbar, dass ich seit langer, langer Zeit keine neue Musik geschrieben oder aufgenommen hatte, und es stellte sich mir die vernünftige Frage: Warum soll ich überhaupt ein Album aufnehmen? Einfach nur, weil ich es kann und weil ich vermutlich einen neuen Plattenvertrag unterschreiben würde? Dies erschien mir als Rechtfertigung einigermaßen dürftig, denn: Wenn es tatsächlich ein neues Album von mir geben sollte, so müßte es künstlerisch zwingend sinnvoll sein, es müßte eine künstlerische Herausforderung sein und definitiv keine Selbstverwaltung des status quo abbilden.

  Ein nicht zu unterschätzender Aspekt war (und ist): Seit meinem letzten Album hatte sich die Musik-Industrie grundlegend verändert: Der Fokus lag inzwischen im Bereich Download und Streaming, physikalische Tonträger waren eher die Kirsche auf der Torte und gleichwohl (wg. des finanziellen Risikos) weit entfernt von der Substanz besagter Torte. Mit dieser, nun ja, 'neuen Welt' fremdelte ich doch sehr, und ich gebe zu: Ich bin noch immer nicht recht glücklich damit.

  Wie auch immer – der Sommer ging ins Land, der Herbst tat es ihm gleich. Ich hatte inzwischen einige Texte geschrieben, die es mir wert schienen, vertont zu werden, das Vielleicht-Album hatte sogar schon einen Arbeitstitel (Weimar), ich nahm in einem Studio in München (in der Gramophone Suite, jenem Studio, in welchen zwischen 2001 und 2003 mein damaliges Comeback-Album Slow Night produziert wurde) ein Handvoll Demos auf, die mir jedoch allesamt nicht gefielen. Also stand weiteres gründliches Nachdenken auf der Agenda, denn dieses Scheitern im Demo-Stadium setzte mir weit nachhaltiger zu, als ich mir zunächst eingestehen wollte.

  Es dauerte bis Dezember, bis ich die ganze Sache wieder ernsthaft in Betracht ziehen sollte, und schuld daran waren (allerdings im besten denkbaren Wortsinne) die Damen und Herren von Nordwasser-Records, die mir endlich einen Vertrag anboten, den ich gern unterschrieb, und die künftig auch entsprechende Management-Pflichten erfüllen wollten. Am 21. Dezember 2022 stand somit fest: Mein musikalischer Back-Katalog der Jahre 1992 bis 2016 würde sukzessive digital wiederveröffentlicht werden, ferner verpflichtete ich mich, in drei Jahren vier Alben abzuliefern (mit einer Option auf weitere fünf). Ausschlaggebend dafür, dass sich meine Laune besserte, war die Zusicherung vollkommener künstlerischer Freiheit, was zweifellos ziemlich 90er ist – für mich ist dies jedoch der Aspekt, mit dem buchstäblich alles steht und fällt.

  Ich gebe zu: Als ich schließlich am 02. Januar 2023 das Parkland Recording-Studio in Linköping/Schweden betrat, war mir noch ein wenig mulmig zumute. Zuletzt hatte ich hier irgendwann Ende 2015 aufgenommen, manches hatte sich verändert, vieles war vertraut, und wie schon in den Jahren 2005 bis 2015 war es Karen Park, Studio-Inhaberin und Ton-Ingenieurin, die mich immer wieder aufs Neue motivierte und mich ermutigte, wenn der Zweifel allzu arg an mir nagte.

  Eine ungewohnte Situation ergab sich für mich zusätzlich durch den Umstand, dass ich nur mit gut zwei Dutzend Texten im Studio ankam, aber mit keiner einzigen Note Musik. Es existierten also viele, viele guten Ideen, von fertigen Songs konnte allerdings nicht die Rede sein. Somit wurde buchstäblich jeder Song für Kafkaland (wie das Album inzwischen hieß) und für die Single Dancing In Berlin (Plattenfirmen lieben Singles!) erst im Studio geschrieben – ein Umstand, der sich geradezu als Geschenk des Himmels erweisen sollte: Denn ich wollte mich mit diesem Album definitiv nicht wiederholen, ich wollte keine Interims-Meinungen Dritter einholen, ich wollte so radikal und so künstlerisch konsequent wie möglich arbeiten; auch insofern ergab die veränderte Herangehensweise einen eminenten Sinn. Ferner setzte ich mir eine Deadline von vier Wochen, was Kafkaland zu meinem bei weitem ökonomischsten Album, aber auch zu meinem originellsten und authentischstem Album seit vielen Jahren werden ließ.

  Trotz der langen musikalischen Schaffenspause war klar: Ich würde das Album wie stets selbst produzieren und ich würde sämtliche Instrumente ohne Unterstützung einer Band allein einspielen. Und bis auf eine kleine Ausnahme – Stina Suntlands additional vocals beim Song Ich fühle dich nicht – ist auch nur meine Stimme auf Kafkaland zu hören.

  Kafkaland wuchs in nur vier Wochen (also innerhalb einer bemerkenswert kurzen Zeit) von einem behutsamen Tasten zu einem immens aufwändigen und außerordentlich selbstbewussten Projekt – und im Hinblick auf die zutiefst düsteren, oft politischen Texte entstand ein entsprechend düsteres, geradezu nihilistisches Werk, musikalisch und textlich höchst experimentell und von der ersten bis zur letzten Minute folgerichtig und kompromisslos. Der inhaltliche Kern sponn sich um die Songs White Box, Kafkaland, Sophie Rois in Weimar und Phantomschmerz, emotional wird das Album vor allem von den Songs Beinahe hier, 1979, 1989 und Ich fühle dich nicht getragen, selbst Dancing In Berlin – jener Song, welcher als Single dem Album vorangehen sollte – bleibt eigensinnig und kalt lächelnd in sich selbst ruhend: Einflüsse von außen verboten sich in jeglicher Hinsicht, und keinem meiner bisherigen Alben hat dieser Grundsatz so gut getan wie Kafkaland.

  Auf diese Weise – in einem oft schmerzhaften, stets fordernden Prozess – entstanden in der schwedischen Einsamkeit am Roxen-See, weitab von irgendwelcher Konsens-Musik, 19 Songs – 20, wenn man die Single-Version von Dancing In Berlin hinzuaddiert – , aus 17 Songs wurde das Album geformt, drei Songs wurden zur bis dato ungewöhnlichsten Single meiner musikalischen Laufbahn.

  Und als Album und Single schließlich gemastert wurden – im Ghostwood-Studio in Reykjavík/Island (hier wurden u. a. bereits meine Alben American Gothic und Flower, Mercy, Needle, Chain gemastert) – wurde mir bewusst: Ich hatte weit mehr geschaffen, als ich für möglich gehalten hatte, und ich war erstmals seit Jahren wieder vollauf zufrieden als Künstler, und die einzigen Erwartungen, die zu erfüllen ich mich verpflichtet fühlte, waren endlich wieder ausschließlich die meinen.

  Erstaunlicherweise war sogar die Plattenfirma hellauf begeistert von dem Ergebnis, und als Single und Album im Februar 2023 digital veröffentlicht wurden, waren die Reaktionen ebenso unmittelbar wie enthusiastisch – und gemessen an den Streaming- und Download-Zahlen nach gerade einmal zwei Wochen lässt sich jetzt schon sagen: Kafkaland ist offensichtlich ein künstlerischer und ein kommerzieller Erfolg, und dieser Erfolg kommt zu einem (für mich) denkbar wichtigen Moment, und es darf als sicher gelten: Kafkaland wird nicht mein letztes Album bleiben, aber es ist – wenn ich so unbescheiden sein darf – bislang mein künstlerisch gewagtetstes und mein zweifellos bestes Album, ein Album, welches mein literarisches und mein musikalisches Werk nahezu perfekt abbildet und tatsächlich erstmals in über dreißig Jahren makellos zu einem zwar dunklen, gelegentlich (selbst)zerstörerischen, aber zutiefst runden Ganzen zusammenführt; es ist Theater-Musik und dissonanter Documenta-Lärm, literarisch meisterhaft und musikalisch virtuos – nie zuvor in den vergangen dreißig Jahren habe ich das Schreiben und Aufnehmen von Songs als derart intensiv und befriedigend erlebt.

  Nun sind Künstler nicht mit der Eigenschaft der Zufriedenheit gesegnet; stets gilt es, den nächsten Gipfel zu erstürmen, stets drängt es nach dem Höher, dem Weiter, nach dem Absoluten. Kafkaland indes hat mir die Gewissheit geschenkt: Würde ich morgen sterben (was ich selbstverständlich nicht zu tun beabsichtige), hätte zumindest der künstlerische Teil meiner Persönlichkeit kein Problem damit, denn die Erstürmung eines nächsten Gipfels ist nun nicht mehr zwangsläufig erforderlich.

  Und das ist weitaus mehr, als ich im schrecklichen Sommer 2022 zu erwarten gehofft hatte.

 

 

Christian Dörge,

  – München/Deutschland, im Februar 2023


The Making Of -  KAFKALAND

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  Artist: Christian Dörge.

  Album title: Kafkaland.

  Format: Album.

  Recorded January 2023.

  Recording-Studios: – The Gramophone Suite, Munich/Germany

                                   – Parkland-Recording-Studio, Linköping/Sweden

                                   – Sub Pop, Irvine, CA/USA.

  Line-up: Christian Dörge (vocals, piano, guitars, double-bass, cello, alto saxophone,  

  synthesizers, programmings), Stina Suntland (add. vocals).

  Produced by: Christian Dörge.

  Sound engineers: Josefin Schindler und Karen Park.

  Mixed by: Christian Dörge.

  Released: Februar 2023.

  Record Company: Black October-Records/Nordwasser-Records.

 

  Tracks:

  1. White Box

  2. Psychokult

  3. Beinahe hier

  4. 1979

  5. Sophie Rois in Weimar

  6. Das Atmen von Eis

  7. Kafkaland

  8. 1989

  9. Dancing in Berlin (Album-Version)

  10. Doktor Faustus in werkerfüllter Ewigkeit

  11. Weimar bei Nacht

  12. Ich fühle dich nicht

  13. Gekreuztes Heroin

  14. 1996

  15. Ein kafkaesker Limbus

  16. Falsche Licht 2023

  17. Phantomschmerz

 

 

  In the late summer of 2022 it didn't look like it I would ever record a new album again. At this point, the negotiations with the record company had been dragging on for more than half a year and seemed to lead nowhere; a new SYRIA album (planned for January 2022) didn't get past the planning phase because the band couldn't be brought together in the form I wanted - the Corona measures (and restrictions) did the rest in this regard to this album project to fail.

  On top of that... well, I wasn't in good spirits in 2022 for many reasons, and the idea of being able to do such concentrated work as writing, recording and producing an album struck me as at least: highly absurd. Furthermore, it made itself felt that I hadn't written or recorded new music in a long, long time, and it made me ask the reasonable question: why should I record an album at all? Just because I can and because I'd probably sign a new record deal? This seemed to me to be a rather poor justification, because: If there were to be a new album from me, it would have to make artistic sense, it would have to be an artistic challenge and definitely not reflect the self-administration of the status quo.

  An aspect that should not be underestimated was (and is): Since my last album, the music industry had changed fundamentally: The focus was now on downloading and streaming, CDs and vinyls were more the icing on the cake and nevertheless (because of the financial risks) far removed from the substance of said cake. I was very unfamiliar with this, well, 'new world', and I admit: I'm still not very happy with it.

  However, summer came and went, and autumn did the same. In the meantime I had written some lyrics that seemed worth putting to music, the maybe album even had a working title (Weimar), and I recorded a handful of demos in a studio in Munich (in the Gramophone Suite, the studio where between 2001 and 2003 my then comeback album Slow Night was produced), but I didn't like any of them. So further thorough thinking was on the agenda, because this failure at the demo stage affected me far more lastingly than I wanted to admit at first.

  It wasn't until December that I started to seriously consider the whole thing again, and it was the 'fault' of the ladies and gentlemen at Nordwasser-Records (in the best possible sense of the word, though) for finally offering me a contract, which I was happy to sign, and who also wanted to fulfill corresponding management obligations in the future. On December 21, 2022, it was clear: My musical back catalog from 1992 to 2016 would be successively digitally re-released, and I also committed myself to delivering four all-new albums in three years (with an option for another five). What really lifted my spirits was the assurance of complete artistic freedom, which is no doubt pretty '90s - but for me, that's where literally everything stands and falls.

  I admit: when I finally entered the Parkland Recording studio in Linköping/Sweden on January 2nd, 2023, I still felt a little queasy. I last recorded here sometime in late 2015, some things had changed, many things were familiar, and as in 2005 - 2015 it was Karen Park, studio owner and sound engineer, who kept motivating and encouraging me, when the doubt nagged me too badly.

  An unfamiliar situation also arose for me from the fact that I only arrived at the studio with a good two dozen lyrics, but not a single note of music. So there were many, many good ideas, but there was no talk of finished songs. So literally every song for Kafkaland (as the album was now called) and for the single Dancing In Berlin (record labels love singles!) was written in the studio - a fact that turned out to be a godsend: I didn't want to repeat myself on this album, I didn't want to get interim opinions from third parties, I wanted to work as radically and as artistically consistent as possible; in this respect, too, the changed approach made eminent sense. I also set myself a deadline of four weeks, which made Kafkaland by far my most economical album, but also my most original and authentic album in many years.

  Despite the long musical creative break, it was clear: As always, I would produce the album myself and I would record all the instruments alone without the support of a band. And apart from one small exception - Stina Suntland's additional vocals on the song Ich fühle dich nicht - only my voice can be heard on Kafkaland.

  So Kafkaland grew in just four weeks (a remarkably short time!) - from a cautious groping to an immensely elaborate and extraordinarily self-confident project, and given the deeply somber, often political lyrics, a suitably somber, almost nihilistic work emerged, musically and lyrically highly experimental and consistent and uncompromising from the first to the last minute. The core of the content is spun around the songs White Box, Kafkaland, Sophie Rois in Weimar and Phantomschmerz, the album becomes particularly emotional in the songs Beinahe hier, 1979, 1989 and Ich fühle dich nicht. Even Dancing In Berlin - the song which was supposed to precede the album as a single – remains stubborn and coldly smiling: outside influences were forbidden in every respect, and this principle has never done any of my previous albums as good as Kafkaland.

  In this way - in an often painful, always demanding process - in the Swedish solitude at Lake Roxen, far from any consensus music, 19 songs - 20 if you add the single version of Dancing In Berlin - were created, from 17 songs the album was formed, three songs became the most unusual single of my musical career to date.

  And when the album and single were finally mastered – at Ghostwood Studios in Reykjavík/Island (my albums American Gothic and Flower, Mercy, Needle, Chain, among others, were already mastered here) – I realized: I had created far more than expected, and for the first time in years I was fully satisfied as an artist, and the only expectations I felt obliged to fulfill were finally mine (again).

  Amazingly, even the record company was ecstatic with the result, and when the single and album were released digitally in February 2023, the response was as immediate as it was enthusiastic - and judging by the streaming and download numbers after just two weeks, it's already clear: Kafkaland is obviously an artistic and a commercial success, and this success comes at a very important moment (for me) and it can be said for sure: Kafkaland won't be my last album, but it's - If I may be so immodest - so far my most artistically daring and undoubtedly my best album, an album that depicts my literary and my musical work almost perfectly and, for the first time in over thirty years, flawlessly merges them into a dark, occasionally (self)destructive, but deeply rounded whole; it's theatrical music and dissonant Documenta noise, literary mastery and musical virtuoso - never before in the past thirty years have I found the writing and recording of songs so intense and satisfying.

  Now, artists are not gifted with the quality of contentment; it's always a matter of storming the next peak, always striving for something higher, for something further, for the absolute. However, Kafkaland gave me the certainty that if I were to die tomorrow (which of course I do not intend to do), at least the artistic part of my personality would not have a problem with it, because the storming of the next summit is no longer inevitable.

  And that's far more than I could have hoped for in the dreadful summer of 2022.

 

 

Christian Dörge,

  – Munich/Germany, February 2023